Der Begriff „Kultur“ ist sehr schwer zu definieren oder besser gesagt, es gibt unzählige Definitionen von „Kultur“ – je nachdem, welchen Blickwinkel man einnimmt, welcher Fachrichtung man angehört, oder sogar, in welcher Epoche man lebt.
Im Allgemeinen bezeichnet „Kultur“ alles, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt, ganz im Unterschied zur Natur. Kulturelle Leistungen sind demnach Kunst, Musik, Literatur, Architektur, aber auch Recht, Moral, Religion, Wirtschaft und Wissenschaft.
Kultur 1. und 2. Ordnung
Für die Definition des Kulturbegriffs aus interkultureller Sicht ist die Einteilung des niederländischen Kulturwissenschaftlers Geert Hofstede sehr hilfreich. Hofstede unterteilt Kultur in „Kultur 1. Ordnung“ und „Kultur 2. Ordnung“. Man könnte auch von Kultur im „engeren“ und im „weiteren Sinn“ sprechen.
Zur „Kultur im engeren Sinne“ zählen, wie schon gesagt, die kulturellen Errungenschaften des Menschen wie etwa Kunst, Musik und Literatur.
Als „Kultur im weiteren Sinne“ oder „Kultur 2. Ordnung“ bezeichnet Hofstede die geistige Programmierung des Geistes, die eine Gruppe von Menschen von einer anderen Gruppe von Menschen unterscheidet. Es geht sozusagen um das „geistige Programm“, nach dem eine bestimmte Gruppe von Menschen, also zum Beispiel wir Deutschen, funktioniert.
Dieses „geistige Programm“ bestimmt, wie wir mit unserer Umwelt oder anders gesagt, mit den Aufgaben des Lebens umgehen. Die Programmierung ist unsere kulturelle Identität, die wir sozusagen mit der Muttermilch aufsaugen und die uns so vertraut ist, dass wir sie oft gar nicht bewusst wahrnehmen.
Das Eisbergmodell
Stellen Sie sich den Begriff „Kultur“ und seine Bedeutungen vor wie einen Eisberg mitten im blauen Ozean. Gerade einmal zehn Prozent dieses Eisberges liegt oberhalb der Wasseroberfläche, der Rest, also 90 Prozent, befindet sich unter der Wasseroberfläche.
So ist es auch mit dem Kulturbegriff. Dass, was wir im Allgemeinen unter „Kultur“ verstehen, also Geert Hofstedes „Kultur im engeren Sinne“, ist lediglich die sichtbare Spitze des Eisberges.
Jeder weiß, dass sich Menschen unterschiedlicher Kulturen zum Beispiel in Sprache, Traditionen und Bräuchen unterscheiden. Doch was ist mit Wertvorstellungen, mit Annahmen, mit dem, was ein Mensch für gut oder böse, für richtig oder falsch hält? Hier begeben wir uns auf ein Gebiet, das nur sehr schwer greifbar ist und für das uns oftmals die Definitionen fehlen.
Oder können Sie mit Sicherheit sagen, ob der Begriff „Freundschaft“ für uns Deutsche das absolut Gleiche bedeutet wie für einen Amerikaner „friendship“ oder einen Franzosen „amitié“? Jetzt befinden wir uns bei dem Teil des kulturellen Eisbergs, der unter der Wasseroberfläche liegt. In der Tiefe verbergen sich komplexe Aspekte wie Werte und Normen, Anschauungen und Auffassungen, Gefühle und Beziehungen, mentale Prozesse wie Wahrnehmung und Denken, oder auch das Zeitbewusstsein und vieles andere mehr.
Wie groß ist Ihre Familie?
Nehmen wir ein anderes Beispiel: In allen Kulturen wird die Familie hoch geschätzt. Aber wer gehört denn eigentlich zur Familie? Wenn in Deutschland der Vater oder die Mutter eines Angestellten überraschend ins Krankenhaus muss, haben wohl die meisten Arbeitgeber Verständnis dafür, dass der Mitarbeiter kurzfristig Urlaub einreicht. Aber würden Sie auch ganz selbstverständlich ein paar Tage frei nehmen, wenn Sie hören, dass Ihr Cousin zweiten Grades erkrankt ist? Für einen Chinesen wäre dies genauso selbstverständlich, wie wenn es die eigene Mutter wäre. Denn auch der Cousin zweiten Grades gehört ja zur Familie.
Ein Freund, ein guter Freund
Schauen wir uns noch einmal den Begriff „Freund“ an. Sie haben gelernt, dass „Freund“ auf Englisch „friend“ bedeutet. Aber wissen Sie eigentlich, ob für einen Amerikaner oder einen Engländer ein friend dasselbe ist, wie für Sie ein Freund? Oder anders herum: Bedeutet friend für Amerikaner dasselbe wir für uns Deutsche? Nämlich, dass man nur eine begrenzte Anzahl davon hat und dass Freundschaft keine materielle Dimension haben sollte?
Wenn wir keinerlei Erfahrungen mit Freundschaften in England oder Amerika haben, können wir hier nur Vermutungen anstellen. Auch wenn wir die Übersetzung des Wortes „Freund“ kennen.
Machen wir einen Kompromiss!
Oder nehmen Sie das Wort „Kompromiss“: Im Deutschen ist ein Kompromiss durchaus positiv belegt. Natürlich nur dann, wenn es sich um keinen faulen Kompromiss handelt. Aber wenn zwei sich streiten, ist es doch eine gute Sache, wenn man einen akzeptablen Mittelweg findet.
In Frankreich hingegen hat das Wort „compromis“ einen eindeutig negativen Beigeschmack. Was wird also passieren, wenn Sie guten Gewissens einen Schritt auf einen Franzosen zugehen möchten und ihm zur Lösung des Konflikts einen „compromis“ vorschlagen? Vermutlich wird das den Konflikt nicht so entspannen, wie Sie sich das mit Ihrem kulturellen Verständnis eines Kompromisses erhoffen.
Hilfe, mein Chef ruft an!
Noch ein letztes Beispiel, das zeigt, was passieren kann, wenn man sich nicht klarmacht, was alles unter der Wasseroberfläche eines kulturellen Eisbergs befindet:
Ein polnischer Chef in einem deutschen Unternehmen erfährt, dass sich ein Mitarbeiter krank gemeldet hat. Für ihn als Pole ist es ganz klar, dass er als Chef die Aufgabe hat, sich um seine Mitarbeiter zu kümmern. Also schnappt er sich nachmittags das Telefon und ruft seinen Mitarbeiter zu Hause an, um sich zu erkundigen, wie es ihm geht.
Wie würden Sie reagieren, wenn Ihr Chef sich persönlich bei Ihnen meldet und sich nach Ihrem Wohlbefinden erkundigt? Vermutlich käme Ihnen der Gedanke: „Will der mich jetzt kontrollieren? Prüft der nach, ob ich auch wirklich im Bett liege?“ Auf die Idee, dass Ihr Chef es einfach als seine Pflicht betrachtet, sich um Sie Sorgen zu machen, kämen Sie vermutlich nicht. Und im schlimmsten Fall entwickeln Sie nun ein gewisses Misstrauen Ihrem Chef gegenüber, der es ja eigentlich nur gut mit Ihnen meinte.
Was tun?
Wie vermeidet man einen solchen Konflikt? Klar ist, es reicht nicht aus, nur die Spitze des Eisbergs zu betrachten. Man muss sich schon die Mühe machen und unter die Wasseroberfläche tauchen, um zu sehen, ob man im Begriff ist, den Eisberg zu rammen oder nicht.
Wenn Sie öfter mit anderen Kulturen in Kontakt kommen, sei es durch Geschäftstermine im Ausland, Auslandsentsendungen oder ausländische Mitarbeiter im eigenen Unternehmen, dann kann beispielsweise ein interkulturelles Training für Sie sehr hilfreich sein. Ein interkultureller Trainer schärft Ihren Blick für das, was Kultur so alles mit sich bringen kann. Sie lernen, eine gewisse forschende Haltung einzunehmen und nicht nur durch Ihre eigene kulturgefärbte Brille zu schauen.
Autor Steffen Henkel