Jeder Mensch hat eine spezifische Sichtweise auf die Welt, die in dem kulturellen Kontext begründet liegt, der ihn von klein auf geprägt hat. Unsere kulturelle Prägung beeinflusst unser tägliches Handeln, was gerade in der internationalen Zusammenarbeit deutlich spürbar wird – und zwar nicht selten zunächst auf eine negative Art und Weise. Denn in der Regel halten wir erst einmal alles für normal, was unserer eigenen kulturellen Prägung entspricht, was wir also kennen und gewohnt sind. Kultur wirkt wie eine „Linse“, durch die nur bestimmte Dinge des Umfelds ins Blickfeld gelangen.
Im Umkehrschluss bedeutet das: Alles, was anders ist als unsere eigene Kultur, gilt fast automatisch als „nicht normal“ und deshalb häufig als „schlecht“. Kulturelle Unterschiede werden also als Abweichung von der Norm, dem eigenen Verhalten, der eigenen Kultur, empfunden.
Aber wie „funktioniert“ Kultur eigentlich?
Das Eisbergmodell
Stellen wir uns dazu einen großen Eisberg mitten im blauen Ozean vor. Gerade einmal zehn Prozent dieses Eisberges liegt oberhalb der Wasseroberfläche, der Rest, also 90 Prozent, befindet sich unter der Wasseroberfläche.
Bei Kultur verhält es sich ganz ähnlich. Es gibt Dinge über der Wasseroberfläche, also Dinge, die wir in einer anderen Kultur gleich wahrnehmen, wie beispielsweise Bauwerke, Kleidung, Bräuche etc. Und es gibt Dinge unterhalb der Wasseroberfläche, also all das, was nicht gleich ersichtlich ist, aber die Basis für das über dem Wasser Sichtbare darstellt: Dazu zählen Werte, Normen, Annahmen, Einstellungen etc. Da Annahmen und Einstellungen einigermaßen selbsterklärend sind, schauen wir uns doch die Begriffe „Werte“ und „Normen“ etwas genauer an:
Werte repräsentieren das Gewünschte bzw. das Erwünschte in einer Gesellschaft. Sie geben eine Richtschnur für das, was in einer Kultur als „gut oder böse/schlecht“ beurteilt wird.
Normen wiederum stellen explizite Regeln dar, also etwa Gesetze. Und sie stellen implizite Regeln dar, also das, was wir gemeinhin als „ungeschriebene Gesetze“ bezeichnen. Normen geben eine Antwort auf die Frage, was richtig und was falsch ist.
Je tiefer wir im Eisberg nach unten kommen, desto näher gelangen wir an das Innerste einer Kultur, das man üblicherweise gar nicht mehr bewusst wahrnimmt, weil es selbstverständlich ist. Hier wirken sich dann die bestehenden Unterschiede zwischen Kulturen in der Zusammenarbeit am gravierendsten aus.
Unschärfe von Kulturen
Obwohl das Eisberg-Model sehr geeignet ist, kann es die Komplexität von Kultur nicht erfassen. Ein Aspekt, der durch das Bild des Eisbergs nicht abgedeckt wird, ist die Tatsache, dass verschiedene Kulturen nicht klar abgrenzbar sind. Denn jeder von uns gehört nicht nur der Kultur eines Landes oder einer Region an, sondern ist Teil unterschiedlichster Kulturen z. B. der Unternehmenskultur, der Familie, dem Sportverein etc.
Dabei sind wir uns darüber bewusst, dass sich diese Kulturen manchmal überschneiden, nicht eindeutig abgrenzbar und zerfasert sind. Daher wird auch über die Unschärfen von Kulturen gesprochen. Das Gute daran ist, dass wir eigentlich mit allen nötigen Eigenschaften ausgestattet sind, um uns ganz natürlich zwischen verschiedenen Kulturen zu bewegen.
Etwas Neues entsteht
Wenn nun im Rahmen einer internationalen Zusammenarbeit Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen aufeinandertreffen, reicht das Eisberg-Modell nicht mehr aus, denn es passiert etwas Spannendes: Es entsteht etwas Neues, ein dritter Aspekt kommt ins Spiel, der weder mit der einen noch mit der anderen Kultur identisch ist.
Die beteiligten Personen verhalten sich nicht mehr genau so, wie sie es in ihrem eigenen kulturellen Umfeld tun würden. Daraus ergibt sich die großartige Gelegenheit, einen gemeinsamen Weg der Zusammenarbeit zu finden, der die Möglichkeiten des Einzelnen bei Weitem übersteigt.
Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass kulturell heterogene Teams oft schlechtere Leistungen erbringen als kulturell homogene Teams. Wenn jedoch heterogene Teams ein gewisses Level an interkultureller Synergie erreicht haben, bergen sie das Potenzial, weitaus bessere Leistungen zu erreichen als homogene Teams.
Um einen solchen interkulturellen Synergieeffekt zu erzielen, ist es notwendig, Energie aufzubringen, in der Regel Form von Zeit. Es ist notwendig, sich mit der eigenen wie auch den anderen Kulturen zu befassen und als Resultat einen gemeinsamen Weg der erfolgreichen Zusammenarbeit zu finden. Dieser Aspekt sollte stets bedacht werden, wenn es beispielsweise darum geht, ein interkulturelles Team zusammenzustellen oder in einem zu arbeiten.
Autor Steffen Henkel