Oktoberfest im German Center in Beijing: Weißwürste, Brezn, Radi und Stimmungsmusik, an den Tischen lachende Gesichter! Darunter sind viele Deutsche, die in China leben und arbeiten. So manch einer von ihnen hätte in Deutschland um jedes Festzelt einen weiten Bogen geschlagen. Den ein oder anderen zwingt das Business zum Besuch – vielleicht lockt aber auch die Sehnsucht nach Vertrautem. Denn nicht wenige Expats, die in Deutschland für traditionelle Bräuche nur ein Lächeln übrig hatten, entdecken sie im Ausland für sich neu. Kramen nach dem Kochbuch mit dem Rezept für die Martinsgans oder fahren kilometerweit, um Tannenzweige für einen Adventskranz zu finden. Denn die Begegnung mit einer fremden Kultur weckt in uns auch das Bewusstsein für unsere eigene Herkunft. Gleichzeitig gibt das Eintauchen in bekannte Bräuche oder Rituale Sicherheit, wenn sich ansonsten alles andere in unserem Leben verändert.
Die eigene Kultur neu entdecken
Ein Mensch, der in seiner Heimat lebt, bewegt sich in einem Umfeld, das ihm vertraut ist. Die meisten Situationen lassen sich ohne großes Nachdenken einordnen, instinktiv weiß er, welche Dinge wie zu deuten sind und welches Verhalten von ihm erwartet wird. Diese Sicherheit geht in der Begegnung mit einer fremden Kultur zunächst verloren. Menschen, Sitten und Gebräuche im Gastland sind anders – und spiegeln, dass der bisher stillschweigend akzeptierte eigene Orientierungsrahmen nicht allgemein gültig ist. Wer hellhörig ist, wird sich in dieser Situation der eigenen kulturellen Prägung bewusst und erkennt, welche unausgesprochenen Regeln und Erwartungen das eigene Verhalten bestimmen. Damit einher geht oft eine neue Einstellung zu Festen oder Bräuchen, die diese Kultur geprägt haben. Sie werden wichtiger, als sie es zu Hause waren.
Traditionen und Rituale mit Funktion
Jede Kultur hat ihre Traditionen und Rituale. Vor allem in Situationen, in denen etwas zu Ende geht oder etwas Neues beginnt, in denen also Unsicherheiten das Leben prägen, geben sie Halt und Stabilität. Daher gibt es zum Beispiel bestimmte Formen, wie wir eine Hochzeit feiern, einen Konfirmanden auf dem Weg in die Erwachsenenwelt begleiten oder aber von einem Verstorbenen Abschied nehmen.
Auch in unserem ganz privaten Lebensbereich entwickeln wir feste Muster. Wer Kinder hat, weiß ein Lied davon zu singen, wie der Nachwuchs darauf besteht, den Morgenkakao aus der immer gleichen Tasse zu trinken oder den Stofftieren abends in genau festgelegter Reihenfolge „Gute Nacht“ zu wünschen. Und auch Erwachsene pflegen ihre kleinen Rituale: Da starten wir den Bürotag immer mit einer Tasse Tee oder dem Blick in den Sportteil der Zeitung. Legen Wert auf die frischen Brötchen am Samstag oder das traditionelle Sonntagsessen mit der ganzen Familie. Diese wiederkehrenden Abläufe sind individuelle Bräuche, die dem Alltag Struktur geben und gleichzeitig Halt und ein gewisses Gefühl von Geborgenheit vermitteln.
Dabei schärfen ganz persönliche Rituale vor allem das Bewusstsein für uns selbst. Bräuche, die wir mit der Familie, einer Gruppe von Menschen oder gar unserer Nationalität verbinden, stärken darüber hinaus ein Gefühl von Gemeinsamkeit.
Veränderungen verunsichern
Wer ins Ausland geht weiß, dass sich sein Leben verändern wird. Neues Land, neuer Job, neues Klima, neue Sprache, neue Freunde – die Liste lässt sich noch lange fortsetzen. Doch erst im Lauf der Zeit wird dem neuen Expat richtig bewusst, wie tief die Veränderungen sind. Denn das Leben in der Ferne birgt manche Unsicherheit.
- Für den Alltag müssen neue Strukturen gefunden werden. Das kostet Energie und braucht vor allem Zeit.
- Freunde, Verwandte, Kollegen, kurz: fast alle Menschen, die uns seit langem kennen und schätzen, sind ganz weit weg.
- Vieles, was bisher selbstverständlich war, ist in Frage gestellt, Partnerschaft und Familie geraten – vorübergehend – außer Balance.
- Neue Menschen kommen und gehen, und häufig steht nicht einmal fest, wann man selbst wieder die Zelte abbrechen wird, um nach Hause zurückzukehren oder woanders wieder von vorne anzufangen. Die Zukunft ist ungewiss.
Wiederkehrendes schafft Stabilität
Die Instabilität des modernen Nomadenlebens ist beides: spannend und eine emotionale Belastung. In dieser Situation wirkt Stabilität im privaten Umfeld als wichtiger Gegenpol zu den Unwägbarkeiten des Expat-Alltags. Viele Auslandsrückkehrer berichten denn auch, dass die Jahre als Expats ihre Partnerschaft, ihre Familie enger zusammen geschweißt hat. Doch wie schafft man diese Stabilität? Rituale können dabei eine wichtige Rolle spielen. Das gilt ganz besonders für Familien mit Kindern. Bei aller Offenheit für das Neue des Auslandslebens sollten Sie daher darauf achten, bewusst bestimmte Orientierungspunkte zu gestalten.
Einige Anregungen:
- Führen Sie lieb gewonnene Familien-Rituale auch im Ausland möglichst weiter. Die vertraute Art Geburtstage zu feiern, der gemeinsame Spiele-Nachmittag, die abendliche Gute-Nacht-Geschichte.
- Feiern Sie die großen Feste im Jahreslauf auf vertraute Weise, auch wenn Weihnachten plötzlich in den Sommer fällt oder Ostern in ihrem Gastland gar nicht begangen wird.
- Schaffen Sie neue Rituale, die ihre Zeit im Ausland symbolisieren: Das gemeinsame Kochen am Samstag, die monatliche Rundmail an Großeltern und Freunde, regelmäßige Treffen mit anderen Expatfamilien… Vielleicht wird aus einem solchen Ritual dann eine Familientradition, die Sie bei Ihrer Rückkehr dann als Erinnerung an die gemeinsame Auslandszeit mit „im Gepäck“ haben werden.
Positive Eckpunkte als Fundament
Wie immer die Liste Ihrer persönlichen Traditionen aussehen mag: Wichtig ist, dass es gerade im wechselhaften Auslandsalltag Eckpunkte gibt, die voraussehbar sind, Freude machen und in einer gewissen Routine ablaufen – denn Abwechslung bringt Ihnen das Expat-Leben schließlich auch so genug.
Autorin: Brigitte Hild