Als Teamleiter halten Sie vor Ihren indischen Mitarbeitenden eine Präsentation, in der Sie die Ziele und die Maßnahmen des Projekts detailliert vorstellen. Mehrfach fragen Sie nach, ob alles verstanden sei. Sie bekommen jedes Mal „Ja, klar“ als Antwort. Mit der Zeit merken Sie jedoch, dass es hapert. Ihr Team arbeitet nicht so, wie Sie sich das vorgestellt haben. „Die haben wirklich nichts kapiert“, sagen Sie völlig gefrustet. „So blöd kann man doch nicht sein. Und überhaupt, können die nicht einfach nachfragen, wenn sie es nicht verstehen?“
Was ist passiert?
Dem Chef gegenüber Ja zu sagen, gehört zur indischen Mentalität. Ein Ja ist ein Zeichen des Respekts und der Wertschätzung. Nicht ein Zeichen des Verstehens oder gar der Zustimmung. Würde man gegenüber dem Vorgesetzten zugeben, dass man etwas nicht verstanden hat oder sich unsicher ist, was genau gemeint ist, dann wäre das aus indischer Sicht erstens eine grobe Unhöflichkeit, weil es die Hierarchie verletzt, die ein Nein gegenüber dem Höhergestellten nicht zulässt, und zweitens würde man damit andeuten, der Vorgesetzte habe sich nicht verständlich genug ausgedrückt. Ein solcher Makel steht dem Chef jedoch nicht gut zu Gesicht.
Warum ist das so?
Indien ist eine hierarchische Gesellschaft mit festgelegten Rollen. Dazu kommt zusätzlich das Prinzip der Seniorität, das Alter mit Erfahrung, Klugheit und Weitsicht gleichsetzt, die wertzuschätzen sind. In der Familie lernen die Kinder von Anfang an Gehorsam gegenüber den Älteren. Widerspruch ist unpassend. Debattieren und Argumentieren ist nicht erwünscht, weil es Sache des Ranghöchsten (ist gleich Ältesten) ist, eine Entscheidung zu treffen. In der Schule ist es ganz ähnlich. Die Lehrkraft ist eine Respektsperson, die ihr Wissen weitergibt. Kinder müssen dankbar sein, von ihr etwas lernen zu dürfen. Dabei ist die Beziehung klar geregelt: Der Lehrer gibt, der Schüler nimmt. Das heißt, lernt auswendig.
Das Fazit: Meinungsbildung, Argumentieren, Abwägen sind in Indien nicht oder nur sehr wenig als Verhaltensmodell eingeübt. Die Haltung eines kritischen Geistes, der Höheren und Älteren um der Sache willen mit guten Argumenten widerspricht, ist weitgehend inexistent, da gesellschaftlich nicht gewünscht. Gehorsam ist wertgeschätzt, Kritik gilt als verpönt. Wer anständig ist, der erweist den Höheren und Älteren Respekt, indem er Ja sagt zu dem, was sie sagen.
Entsprechend verbreitet ist die Ja-Sager-Mentalität gegenüber dem Chef. Dies kann sogar so weit gehen, dass Mitarbeiter, die von Unrechtmäßigkeiten z.B. Verstoß gegen die Compliance-Richtlinien in den oberen Etagen wissen, dies nicht anzeigen. Dann etabliert sich eine Unternehmenskultur wie am Hof des Kaisers, den alle zu seiner tollen neuen Garderobe beglückwünschen, obwohl er nackt war.
Was können Sie tun?
Wenn Ihnen daran gelegen ist, dass Ihr Team Fragen stellt, Sachverhalte hinterfragt, kritisch mitdenkt, argumentiert und abwägt, wenn Sie keine devote Ja-Sager-Mentalität haben wollen, dann müssen Sie entsprechende Zeichen setzen. So sollten Sie – um eine Lösung für das geschilderte Fallbeispiel aufzuzeigen – nach einer Präsentation nicht einfach nachfragen, ob alles verstanden wurde. Sie könnten Ihr Team bitten, die einzelnen Schritte detailliert auszuführen. Lassen Sie erzählen und zusammenfassen. Fragen Sie nach den nächsten Schritten, nach möglichen Hindernissen, nach Lösungen. Was ist genau wie und warum in welchem Zeitraum zu tun? Lassen Sie Ihrem Team Zeit, sich miteinander auszutauschen. Schaffen Sie Platz für Interaktion, z.B. durch Brainstorming-Einheiten. Fördern Sie eine Kultur des kritischen Mitdenkens und der Erarbeitung von Vorschlägen.
Autorin: Prof. Dr. Simone Rappel –Seit 1995 ist die Theologin und Religionswissenschaftlerin in der internationalen Zusammenarbeit tätig und hat über 20 Jahre Erfahrung als Führungskraft und im Projektmanagement. Heute arbeitet sie u. a. als interkulturelle Trainerin mit Schwerpunkt auf indisch-deutsche Zusammenarbeit.