Alles amigo? Geschäftsbeziehungen in Indien

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„Mein Kollege hat an seine letzte E-Mail ganz viele Hochzeitsfotos angehängt. Schön, dass der geheiratet hat. Aber was habe ich damit zu tun? Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll.“

Diese Begebenheit hatte ich kürzlich bei einem meiner Seminare zur indischen Geschäftskultur. Über so viel Vertrautheit und Nähe war der IT-Ingenieur ziemlich erstaunt. Es war ihm einfach „too much“. Denn privat kannte er den „just married“-Kollegen ja gar nicht.

Natürlich ist es angebracht, Glückwünsche zur Hochzeit zu schicken. Aber es geht um mehr.

Diese Szene bringt die unterschiedlichen Formen der Kommunikation zum Ausdruck. Deutschland steht für sach- und Indien für beziehungsorientierte Kommunikation. Während uns die hard facts besonders wichtig sind, legen Inder vor allem Wert auf die menschliche Seite. Für sie zählt in erster Linie die gute Beziehung.

Teilhaben am Leben der anderen

In diesem Beispiel heißt das: Sie sind eingeladen, am privaten Glück teilzuhaben. Ausführlich sollten Sie die Fotos der Hochzeit anschauen, bewundern und positiv kommentieren. So zum Beispiel: „Ihr seht super aus!“, „Erzähl mal, wie die Zeremonie so war!“, „Wie viele Gäste hattet Ihr bei Eurer Party?“, „Wie lange habt ihr gefeiert?“, „Welche Location?“, „Was gab es zu essen?“, „Welche Geschenke gefallen Dir am besten?“… Das ist das Mindeste, was Ihr indischer Kollege erwartet. ­

Vermutlich denken Sie: „Meine Güte, das ist viel zu neugierig. Ist doch alles privat. Das geht mich nichts an. Ich möchte lieber an unserem Projekt weiterarbeiten. Da gibt es schließlich einen festen Zeitplan.“

Richtig, das sind deutsche sachorientierte Verhaltensmuster. Ihr indischer Kollege ist hingegen auf der Beziehungsebene unterwegs. Neben den Glückwünschen erwartet er, dass Sie auch was aus Ihrem Leben teilen. Er nutzt sozusagen die Gunst der Stunde – seine Hochzeit – und rollt Ihnen den roten Teppich aus.

„Komm, erzähl mir was von Dir! Ich will wissen, wie Du so tickst.“ Sie interessieren ihn als Gesamtkunstwerk. Nicht nur als Kollege, sondern als Mensch. ­

Knüpfen Sie Kontakte und pflegen Sie Beziehungen!­

„It is all about people!“ Das sagen indische Geschäftsleute, wenn man sie nach ihrem Erfolgsgeheimnis fragt. Die Richtigen müssen zusammenkommen. Wichtig ist, dass die Chemie stimmt.

Einfach ist das nicht. Man muss sich schon anstrengen und herausfinden, ob der andere tatsächlich der/die Richtige ist. Am besten tut man das durch Fragen. Mich erinnert dies immer an ein Spiel, das wir als Kinder geliebt haben: Schiffchen versenken. Frage, Treffer, Schiffchen versenkt. Nichts anderes macht man in Indien. Frage stellen und dann: passt oder passt nicht.

Aus unserer Sicht sind die Fragen eher lästig. Wir bewerten sie als übertrieben neugierig. Inder verfolgt damit jedoch einen genauen Plan. Fragen sind ein strategisches Mittel: absichtsvolles Erkunden, wer zu mir passt. Wer was zu geben hat und für wen ich nützlich sein könnte.

Es geht darum, neue Kontakte zu finden, sie in mein Netzwerk zu integrieren und genau zu wissen, wie ich mit ihnen umgehen muss.

Ein Netzwerk, das trägt

Apropos Netzwerk: Was bei uns nach „Seilschaft“, „Vetternwirtschaft“ und „Amigo“ klingt, ist in Indien das Funktionsprinzip der Gesellschaft. Es ist fester Bestandteil der Kultur.

Traditionell kennt Indien die „extended families“. Großfamilien, deren Angehörige sich gegenseitig unterstützen. Diese Community ist vertrauter Raum. Sie trägt und stabilisiert.­ Auch und gerade in schlechten Zeiten: Wenn jemand krank ist, kümmert man sich um ihn. Familienangehörige stehen sofort bereit, um Blut zu spenden, wenn das benötigt wird. Sie leihen Geld, wenn einer der ihren in Not ist.

Dieses Netzwerk ist existenziell. Allein schon aus finanzieller Sicht: Sozialversicherungen, so wie wir das in Deutschland kennen, sind in Indien traditionell unbekannt. Man braucht die anderen. Ohne diese Stabilität und Sicherheit gebende Community ist das Leben schwer.

Es geht um ein Geben und Nehmen. Man kennt sich und vertraut einander. Natürlich braucht diese Gemeinschaft neue Mitglieder.

Ihre Eintrittskarte

Die Eintrittskarte ist: Sie müssen wirklich dazu passen. Es geht um nichts Geringeres als den „culture fit“. Und wir dürfen ergänzen den „moral fit“! Die Überzeugungen, Haltungen, Einstellungen sind maßgeblich. Auf sie kommt es letztlich an.

Auf der Suche nach Passgenauigkeit für meine community hat die indische Kultur mit diesem Vorgehen gute Erfahrungen gemacht. Fragen zu stellen, die für unser Empfinden ein wenig zu privat sind, sind gleichsam „the Indian way“ der Gemeinschaftsbildung.

Diese Erfolgsstrategie ist im Alltagsgeschehen so fest verankert, dass sie nicht mehr bewusst reflektiert wird. Ihre indischen Kollegen kommen also gar nicht auf die Idee, dass Sie die an den Tag gelegte Neugierde als „too much“ empfinden könnten.
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Interkulturell so sensibilisiert, wissen Sie jetzt um den Hintergrund und können souverän damit umgehen. Am besten ist es, Sie überlegen sich Themen, die Sie mit Ihren indischen Kollegen teilen können. Glücklich ist Ihr Kollege, wenn Sie ab und zu auch mal ein Foto schicken und was von sich sich erzählen.

Spätestens jetzt wissen Sie: Small talk ist in Indien immer big talk.

Geschäfte macht man mit Freunden!

Genauso gilt: Mit Kollegen, die man kennt und schätzt, arbeitet man besser zusammen.

Seien Sie ruhig mutig und probieren Sie die beziehungsorientierte persönliche Kommunikation aus. Sie werden überrascht sein: Die Zusammenarbeit klappt mit der Zeit viel besser!

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Über den Autor

Steffen Henkel

Geschäftsführender Gesellschafter der crossculture academy

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