England – Wenn Strumpfhosen den großen Unterschied machen

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Im Ausland unterwegs, versuche ich möglichst viel von Land und Leuten mitzubekommen und möglichst wenigen anderen Touristen, insbesondere deutschsprachigen, zu begegnen. Seit einigen Monaten lebe ich nun mit meinem Mann und unserem fünfzehn Monate alten Sohn in einer mittelgroßen Universitätsstadt in der Nähe von London. Unter allen vorstellbaren Entsendungszielen gehört England wohl zu den „leichtesten“ Ländern: Ein europäischer Nachbarstaat mit einem vergleichbaren gesellschaftlichen System, einer beherrschbaren Sprache und nur ein bis zwei Flugstunden von Deutschland entfernt. Noch dazu sind die Engländer meiner Erfahrung nach gastfreundlich, offen und Meister des Small Talks, sodass es mir nirgendwo sonst auf der Welt leichter gefallen ist als hier, mit „Locals“ ins Gespräch zu kommen und neue Kontakte zu knüpfen. Ich mag den englischen Humor und auch alle sonstigen Eigenheiten der Briten. Meinem neuen Leben in England steht eigentlich nichts im Weg. Und dennoch: Auf einmal genieße ich es mehr denn je, auf andere Deutsche zu treffen. Wie kann das sein???

Heimisch werden

Nach mehreren zeitlich begrenzten Auslandsaufenthalten ist mein Umzug auf die Insel auf Dauer angelegt. Mein Mann ist bereits seit rund 20 Jahren hier und beruflich fest verankert. Mit unserem Sohn in England angekommen, unternehme ich daher einiges, um uns beide möglichst schnell heimisch werden zu lassen: Wir erkunden die Gegend, gehen zu verschiedenen Spielgruppen und ich halte Pläuschchen mit Nachbarn und anderen Müttern auf dem Spielplatz. Abends habe ich meinem Mann fast immer etwas zu berichten, das am Leben in England irgendwie anders ist. Meist resultieren diese Feststellungen aus lustigen Begebenheiten, merkwürdigen Gesprächen oder Kleinigkeiten, die mir einfach irgendwo aufgefallen sind.

Strumpfhosen, Süßigkeiten und ein Feueralarm

Ab und an gibt es aber auch Dinge, die mich länger beschäftigen. So mache ich beispielsweise immer wieder die Beobachtung, dass englische Kinder trotz frostigem Herbstwetter in Sommerkleidern oder kurzen Hosen durch die Fußgängerzone springen. Ich kämpfe permanent gegen meinen Mutterinstinkt an, damit ich nicht in einem unbeobachteten Moment schnell die Baumwolldecke über die nackten blau-roten Beinchen des neugeborenen Babys ziehe, das eigentlich recht friedlich in seinem Kinderwagen schläft. Am liebsten würde ich überall Strumpfhosen verteilen oder Hosenbeine runterziehen. Ich versuche, mich an den Anblick zu gewöhnen und meine Besorgnis zu verdrängen – bis mein Sohn zwei Nachmittage pro Woche in eine englische Krippe geht.

Dort wird eine strikte „Fresh Air Policy“ verfolgt, die zur Stärkung des Immunsystems der Kinder beitragen soll. Meines Erachtens dient sie mehr dazu, über die undichten Fenster des alten viktorianischen Gebäudes und die stets kalten Räume hinwegzutäuschen. Nach drei Erkältungen ziehe ich Junior bei jedem Krippenbesuch Strumpfhosen und einen dicken Pullover an. Den Pullover ziehen ihm die Betreuerinnen sofort – nachdem ich gegangen bin – wieder aus, wie ich später erfahre. Die Strumpfhose muss er jedoch anbehalten, da er keine anderen Socken dabei hat. Immerhin lassen sie ihn nicht barfuß herumtollen. Ich weiß, dass er nicht schwitzt und bleibe daher trotz ständiger Hinweise, dass es doch drinnen so warm sei, standhaft. Winterwoche für Winterwoche bringe ich ihn dick angezogen in die Krippe, versuche Sweatshirts, Pullunder und Strickjacken unterschiedlichster Art, und hole ihn am Abend wieder ohne Pullover, aber immerhin mit Strumpfhose ab.

Nachgeben muss ich hingegen sehr schnell beim Thema Süßigkeiten. In den Krabbelgruppen, die wir regelmäßig am Vormittag besuchen, bekommen auch die Babys stets Schokolade und Kekse. Anfangs stopfe ich die Süßigkeiten noch schnell heimlich in meinen Mund, da ich einerseits nicht unhöflich erscheinen und die angebotenen Leckereien ablehnen, andererseits, deutsch geprägt auf gesunde Kinderernährung achtend, meinem Sohn noch nichts Süßes geben möchte. Während mein Kind von meiner raffinierten Vermeidungstaktik nichts mitbekommt, werde ich schon bald von einem kleinen Mädchen entlarvt. Sie setzt sich vor meinen Sohn auf den Boden und füttert ihn liebevoll mit ihrem Marsriegel. Dabei schaut sie ihn und mich an, als würde sie sagen wollen: „Du armer, armer kleiner Junge aus Deutschland. Deine Mutter isst dir ja alle Süßigkeiten weg.“ Die Szene ist so hinreißend, dass ich nicht eingreifen möchte – obwohl mich ihr missbilligender Blick doch stark an die Erzieherinnen in der Krippe erinnert… Mein Sohn darf jedenfalls ab sofort in den Spielgruppen Süßigkeiten essen – und greift nun jedes Mal beherzt zu. Wir leben schließlich in England.

Während sich keine der englischen Mütter allzu große Sorgen über Erkältungen oder Übergewicht ihrer Sprösslinge macht, scheint die Angst vor Feuer doch sehr groß zu sein. Mit Erstaunen nehme ich daher in der Krabbelgruppe unserer Kirche an einer Feuerübung teil. Der etwa 25qm große Nebenraum hat nur einen Ausgang und die beiden Fenster sind ebenerdig. Die Fluchtwege für den Notfall erscheinen daher eindeutig, finde ich. Dennoch werden wir vom Pfarrer genaustens darüber informiert, wo sich die drei Notausgänge befinden, und dass wir im Falle eines Feuers alle zusammen durch die Tür nach draußen gehen, um uns vor dem Kirchenportal, dem fire assembly point, zu versammeln. Er drückt dann mit ernster Miene auf einen roten Knopf an der Wand und der Feueralarm schrillt los. Die zehn Mütter der Krabbelgruppe schnappen ihre Babys und rennen etwas unkoordiniert aus dem Raum. Auch ich reiße meinen Sohn an mich und laufe geschwind hinterher. Wir stehen dann rund 20 Minuten draußen vor der Kirche und freuen uns, dass das alles so gut geklappt hat. Es ist eisig kalt und ich bin wieder mal froh, dass mein Sohn seine Strumpfhose anhat.

Die denken so wie ich

Dann kommt der Abend, an dem ich zum ersten Mal zu einem Treffen einer Gruppe deutscher Mütter gehe, die alle hier in der Gegend leben und ab und an gemeinsam etwas unternehmen. Ich bin gespannt, wie das so sein wird, finde aber eigentlich, dass ich auch weiterhin mehr Engländer kennenlernen sollte, um mich hier richtig einzuleben.

Wir treffen uns in einem Pub und die Unterhaltungen werden sehr schnell sehr lustig, denn ich bin nicht die einzige, die erzählenswerte Erfahrungen über das Leben in England gemacht hat. Als ich zu meinen ersten Eindrücken in der neuen Heimat gefragt werde und beispielsweise von der „Fresh Air Policy“ in der Krippe erzähle, fangen alle an zu lachen. Wie sich herausstellt, zieht jede der deutschen Mütter ihren jüngeren Kindern Strumpfhosen an und jede hat das bereits in der Krippe oder im Kindergarten massiv verteidigen müssen! Und jede hat sich bereits vor langer Zeit damit abgefunden, dass hier die Kinder mit Süßigkeiten geradezu bombardiert werden. Außerdem höre ich, dass ich in Zukunft noch an vielen, vielen weiteren Feuerübungen werde teilnehmen… Ich lehne mich zurück und genieße den Abend – und alle folgenden Treffen.

Das Gruppengefühl

Obwohl mir mein Leben in England wirklich gefällt, tut mir die Gruppe deutscher Mütter so gut. Warum das so ist, kann ich gar nicht genau sagen. Sicherlich trägt das Sprechen der deutschen Sprache zu dem entspannten Gefühl bei. Aber es ist wohl mehr das Teilen so mancher kleiner Befremdlichkeit und die vielen Berührungspunkte, die sich durch ähnliche Grundüberzeugungen und Erfahrungen ergeben. Ob mein Sohn Strumpfhosen anzieht oder nicht, wäre in Deutschland für mich kein Thema gewesen. Hier haben sie jedoch plötzlich eine Bedeutung bekommen, weil ich damit ganz unerwartet angeeckt bin und mich plötzlich in einer Außenseiterposition wiedergefunden habe. Wie angenehm ist es dann, auf andere zu treffen, die diese Ansicht teilen und ihren Kindern auch Strumpfhosen anziehen – so lächerlich das auch klingen mag.

„Denn fremd ist der Fremde nur in der Fremde“, fällt mir dazu das berühmte Karl-Valentin-Zitat ein. „Und warum fühlt sich ein Fremder nur in der Fremde fremd? Weil jeder Fremde, der sich fremd fühlt, ein Fremder ist und zwar so lange, bis er sich nicht mehr fremd fühlt, dann ist er kein Fremder mehr.“ Gemeinsamkeiten und die Unterhaltungen darüber haben ausgereicht, um mich einer Gruppe unbekannter Menschen verbunden zu fühlen. Die deutschen Mütter haben mir ein Fremdheitsgefühl genommen, das ich zuvor gar nicht so wirklich wahrgenommen hatte. Nun stärkt mir die Zugehörigkeit zu einer Gruppe Gleichgesinnter den Rücken, um das „Andersdenken“ im Krippenalltag tapfer beizubehalten. Insgeheim bilden wir eine Fraktion der Strumpfhosen-Mütter in einer fremden Welt blau gefrorener Kinderbeinchen. Im Grunde genommen ist das wie jede andere Gruppenbildung, die geschieht, weil sich Menschen von anderen Menschen unterscheiden, sei es durch Religion, Nationalität, Interessen oder was auch immer.

Das Fremde aus verschiedenen Blickwinkeln

Am vergangenen Wochenende war ich in London unterwegs, wo ich mich nach wie vor wie im Urlaub fühle und es einfach genieße, neue Stadtteile und Straßen zu erkunden. In der U-Bahn befand ich mich jedoch plötzlich inmitten einer deutschen Reisegruppe – und fühlte mich von meinen Landsleuten sofort sehr gestört. Mit dieser sehr vertrauten Reaktion und meinen neuen Erfahrungen im Kreis der deutschen Mütter komme ich schließlich zu einer Antwort auf die anfangs gestellte Frage, warum ich plötzlich so gerne auf Deutsche treffe. Ich denke, der Unterschied ist einfach, dass das Fremde im Urlaub etwas Faszinierendes hat, es weckt Abenteuerlust und macht den Aufenthalt spannend. Trifft man dort auf andere Deutsche, ist diese Faszination jedoch schnell verschwunden. Man wird an Zuhause erinnert und gedanklich wieder in sein normales Umfeld zurückkatapultiert. Lebt man jedoch im Ausland, können andere Deutsche einem etwas von der Fremdheit nehmen, die man stets zu überwinden sucht, um sich vor Ort einzuleben. Ein Abend unter Deutschen hilft dann sehr, sich ein wenig von dem alltäglichen Fremdsein zu erholen und sich immer ein wenig mehr zu Hause zu fühlen. Denn man ist in der Fremde nur so lange fremd, wie man sich fremd fühlt…

Nachtrag

Dieser Artikel ist im Jahr 2008 entstanden. Mittlerweile ist mein Sohn acht Jahre alt und geht zur Schule, täglich in Schuluniform. Von März bis Oktober trägt er bei jedem Wetter kurze Hosen. Erkältet ist er fast nie, Frieren ist für ihn ein Fremdwort. Es war wohl für die englische Abhärtung doch noch nicht zu spät. In ein paar Wochen startet unser Jüngster in der Krippe. Es ist November und wir sind bisher sehr gut ohne Strumpfhose ausgekommen. Wir haben uns offensichtlich gut eingelebt.

© 123rf.com/Andrey Armyagov 37908263

Katrin Koll Prakoonwit

Katrin Koll Prakoonwit ist eine Frau der Sprache – und arbeitet sowohl mit Medien und im Content-Management. Sie baute eine Plattform auf, in welcher sie interkulturelle Zusammenarbeit zum Kernthema hatte.

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