Interview: Japanisches Krisenmanagement

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Dass sich Japaner in Krisensituationen anders verhalten als Deutsche wurde spätestens mit den schockierenden Bildern der Nuklearkatastrophe in Fukushima 2011 sichtbar. Wie lässt sich der damals fast gleichmütig wirkende Umgang mit einer so schweren Krisensituation erklären?

Grundsätzlich sollten wir uns vor Augen führen, dass Japaner in einer Gesellschaft leben, in der der Einzelne traditionell für die Gruppe und die Gemeinschaft lebt und sein Bestes tut, seinen Beitrag zum Wohl der Gruppe zu leisten. Das wird den Kindern bereits in frühen Jahren beigebracht, und so lebt und denkt die große gesellschaftliche Mehrheit auch heute noch. Der bei uns im Westen so hoch gepriesene Individualismus mit all seinen Erscheinungsformen gilt in Japan als eigennützig und rücksichtslos und führt in der japanischen Gemeinschaft schnell zum Außenseitertum und Ausschluss aus der Gruppe bzw. Gemeinschaft.

Japaner unterliegen außerdem einem gewissen, sagen wir, Fatalismus oder Schicksalsgläubigkeit, und gehen davon aus, dass bestimmte Ereignisse und Umstände in ihrem Leben einen Grund haben oder die Konsequenz von Taten und Vorgängen aus der Vergangenheit sind. Daher neigen Japaner dazu, nicht öffentlich zu zeigen, wenn ihnen etwas Negatives widerfahren ist. Und wenn das Negative doch sichtbar oder öffentlich wird, sich dafür zumindest zu entschuldigen. So beklagen sich Japaner bei Unfällen, Krisen, Krankheiten oder ähnlichen sie betreffenden negativen Geschehnissen nicht, sondern nehmen es mit einer für uns stoischen Ruhe und Geklärtheit hin. Auch jammern sie im Gegensatz zu Menschen in westlicher Kultur nicht.

Wurden deshalb auch die mangelhafte Informationspolitik oder die fragwürdigen Entscheidungen und Handlungen der Verantwortlichen nicht hinterfragt?

Das Zusammenleben innerhalb der japanischen Gesellschaft ist nicht nur auf die Gruppe abgestellt, sondern dabei auch stark hierarchisch untergliedert. Jeder Japaner steht in einer klar abgestuften hierarchischen Beziehung zu seinen Mitmenschen. Männern zu Frauen, Vorgesetzte zu Angestellten, Brüder zu Schwestern, etc. Hinzu kommt ein tiefgehender Respekt gegenüber seinen Mitmenschen. Auch steht die Harmonie in einer Beziehung über allem. Daher werden die Meinungen und Anordnungen von überstellten Personen und Institutionen traditionell nicht infrage gestellt und kritisiert. Stattdessen wird unterstellt, dass Vorgesetzte und Fachleute stets ihr Bestes geben und man darauf vertrauen kann.

Man sagt den Japanern nach, dass sie schlechte Krisenmanager seien. Wie ist das zu erklären?

Japaner sind traditionell in klare Hierarchiestrukturen eingebunden und treffen nicht-alltägliche Entscheidungen erst nach ausführlicher Besprechung und Überzeugungsarbeit innerhalb von Gruppen und anschließender Genehmigung durch Vorgesetzte. Das braucht seine Zeit. Auch wenn Vorgesetzte in bestimmten Situationen einmal Meinungen vertreten oder Entscheidungen treffen, die vermeintlich einer Situation nicht oder nicht optimal gerecht erscheinen, werden Untergebene nicht widersprechen. D.h. eine eigene individuelle Meinung ist von stark untergeordneter Bedeutung.

Entscheidungen bergen in Japan auch immer die Gefahr, sich später als Fehlentscheidungen herauszustellen, was in vielen Situationen zu einem für uns schwer verständlichen erheblichen Gesichtsverlust des Entscheidenden führen kann. Auch dieser Punkt des Gesichtsverlusts durch Fehlentscheidungen ist ein gravierendes Hindernis für schnelle und individuelle Entscheidungen in Krisen. Da in Krisensituationen schnelle Entscheidungen und schnelles Handeln essentiell sind und Japaner in den bestehenden Strukturen dies nicht umsetzen können, sind sie zwangsläufig in unvorhergesehenen Krisensituationen überfordert.

Aber wie reagieren Japaner dann auf Krisen?

Natürlich kennen Japaner diese Schwächen und erarbeiten für viele Fälle Notfallpläne, die im Krisenfall sukzessive abgearbeitet werden. Doch wenn der Notfall nicht so eintrifft, wie im Krisenfall unterstellt, haben wir wieder das gerade oben beschriebene Problem. Und das beobachten wir gerade in Japan im Umgang in einer massiven Krise mit Erdbeben, Tsunami und Atomunfall, für den Japaner so sicherlich nie einen Notfallplan erarbeiten konnten.

In der Fukushima-Krise 2011 erlebte man in Japan einen hohen Grad an Disziplin und Solidarität. So gab es wenige Hamsterkäufe, auch wenn einige Lebensmittel wie Wasser knapp wurden. Wie ist das zu erklären

Hierzu fällt mir die Aussage einer Freundin aus Tokio ein, die sagte „Ich kann doch nicht alle Wasserflaschen für mich kaufen, wenn dann andere Mitbürger kein Wasser mehr bekommen.“ Können sie sich das in Deutschland vorstellen? Der Satz hat mich sehr berührt und ich wünschte mir, wir Deutschen würden dar über einmal nachdenken und künftig unsere Mitmenschen auch mit mehr Rücksicht behandeln. Dieses Verhalten beruht auf dem oben bereits beschriebenen Gruppendenken und dem Respekt vor anderen. Individualisten dagegen denken primär an sich. Japaner sind keine Individualisten.

Sahen wir deshalb damals auch keine Massenflucht aus den gefährdeten Gebieten?

Wer sich aus der Gemeinschaft entfernt, lässt quasi seine Mitmenschen, Nachbarn, Kollegen, Freunde im Stich und kümmert sich nicht um das gemeinschaftliche Wohl. Wenn wir dieses Muster verstehen, können wir uns auch die Konsequenzen vorstellen, mit denen sich ein Japaner nach dem Ende der Krise und bei einer Rückkehr in die Gemeinschaft und Gruppe konfrontiert sehen würde. Dieses „im Stich lassen der Gruppe“ macht ein harmonisches Leben in der Gemeinschaft nach der Krise kaum wieder möglich.

Das Interview führte Dr. Andreas Klippe. 

Autor: Gerd Schneider – Gerd Schneider berät Unternehmen mit dem Schwerpunkt Asiengeschäften und bietet interkulturelles Training für Länder wie China, Japan und Korea an. Insgesamt zählen über 30 weltweite Ziele zu seinem vielseitigen Repertoire.

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Über den Autor

Steffen Henkel

Geschäftsführender Gesellschafter der Crossculture Academy

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