„In meinem Team klappt es nicht so richtig. Von Bestleistung sind wir meilenweit entfernt. Liegt das vielleicht am Kastensystem?“ Dieses Thema ist für uns wie ein Buch mit sieben Siegeln. Die meisten, die mit Indien zusammenarbeiten, haben schon einmal davon gehört, wissen aber nicht so recht, was es damit auf sich hat. Deshalb ein paar Basics:
Entstehung des Kastensystems
In einer der heiligen Schriften der Hindus wird folgende Schöpfungsgeschichte erzählt: Am Anfang schuf Gott einen kosmischen Urmenschen. Der hatte einen Kopf, Arme, einen Rumpf, Beine und Füße. Im Grunde genommen sah er so aus wie wir. Alles an seinem Körper wurde gebraucht, damit er richtig gut funktionierte.
Aus seinen verschiedenen Körperteilen sind nach hinduistischer Vorstellung die Kasten hervorgegangen. Aus dem Kopf die Brahmanen (Priesterkaste), aus den starken Armen und der Brust die Krieger, aus dem Rumpf die Händler, aus den Beinen und Füßen die Bauern und verschiedenen Handwerker. Es entstand ein Zusammenspiel in gleichwertiger Verschiedenheit.
Mit der Zeit proklamierten die Brahmanen, dass sie besser seien als die anderen. Schließlich kämen sie aus dem Kopf, der ganz oben ist. Sie setzten durch, dass nur sie lesen und schreiben können dürfen. Sie seien die alleinige Wissenselite. Das hatte Konsequenzen: Mit diesem Privileg konnte man die anderen Kasten klein halten und leichter ausnutzen.
Eindeutige Profiteure des Kastensystems waren also die Brahmanen, insofern sie die folgende Gesellschaftsordnung publik machten: Wer oben ist, ist besser. Wer unten ist, ist niedriger und muss denen an der Spitze dienen. Ihre Interpretation läutete die Klassifizierung der Kasten in „besser und schlechter“, „höherwertig und minderwertig“ ein. Nach den Brahmanen wurden die Krieger die zweite Kaste, die Händler darunter die dritte Kaste und die einfachen Bauern und Handwerker bildeten die vierte Kaste. Dabei galt die Maxime: Oben ist prinzipiell besser als unten.
In eine Kaste wird man hineingeboren. Man heiratet auch innerhalb einer Kaste. Außerdem war über lange Zeit hinweg die Ausübung bestimmter Berufe einzig und allein bestimmten Kasten vorbehalten. Priester konnte man z.B. nur werden, wenn man Brahmane war. Zum Militär gehen und das Land verteidigen war Aufgabe der zweiten Kaste. Geschäfte wurden nahezu ausschließlich von der dritten Kaste, den Händlern, betrieben. Wer welcher Kaste angehört, erkennen Inder am Familiennamen.
Nach wie vor ist das Kastensystem mit den entsprechenden Klassifizierungen und Regelungen lebendig. Vor allem, wenn es um Hochzeit und Familiengründung geht. Im Bussinessalltag zählt heute in der Hauptsache jedoch die Qualifikation. Dennoch üben viele Inder nach wie vor Berufe aus, die seit Jahrhunderten traditionell in ihrer Familie beheimatet sind.
Wer ist kastenlos?
Noch eine Besonderheit gibt es in Indien: Vielleicht haben Sie schon einmal von den „Kastenlosen“ gehört? Möglicherweise kommt Ihnen aus Schulzeiten der Begriff „Unberührbare“ bekannt vor? Mahatma Gandhi bezeichnete diese Menschen als die „Kinder Gottes“. Heute nennen sie sich selbst „Dalits“. Übersetzt bedeutet das: „gebrochen“ oder „zerbrochen“. Es sind Menschen, denen das System buchstäblich das „Rückgrat gebrochen“ hat.
Gott habe nämlich – so die indische Mythologie – nicht nur die vier Hauptkasten geschaffen, sondern auch Menschen, die gar nicht im kosmischen Urmenschen enthalten sind. Warum? Weil sie in ihrem früheren Leben etwas Schlechtes getan haben. Dafür müssen sie jetzt büßen, indem sie den letzten Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie einnehmen. Sie stehen unter den niedrigsten Handwerkern und müssen den Menschen der oberen Kasten dienen. Das heißt zum Beispiel: Die Latrinen reinigen, den Schmutz wegmachen und all das erledigen, was Menschen höherer Kasten verunreinigt.
Indische Quotenregelung
Um diese Diskriminierung zu beenden, hat Indien eine Quotenregelung eingeführt. Etwa 30% aller staatlichen Jobs werden an Dalits vergeben. Das heißt: Dalits können heute zum Beispiel Chefarzt in einem staatlichen Krankenhaus werden oder das höchste Richteramt bekleiden.
Der Aufstieg in prestigeträchtige Berufe mit hohem Verdienst ist also möglich. Das Stigma, Dalit zu sein, bleibt jedoch bestehen. Der derzeitige Präsident Indiens, Ram Nath Kovind, ist Dalit. Dabei ist er nicht der erste, der es in eine Top-Position geschafft hat. Sozialer Aufstieg ist möglich, der Ausstieg aus dem Kastensystem jedoch nicht.
Gleichwohl gibt es bestimmte Jobs, in denen Sie überproportional viele Dalits finden werden: Bei der Müllabfuhr – ja, die gibt es auch in Indien (!) – , bei Reinigungsfirmen, in Recyclingbetrieben etc. Wenn Sie am Flughafen zur Toilette gehen und dem Putzpersonal begegnen, können Sie sicher sein, dass diese Menschen Dalits sind. Angehörige höherer Kasten machen diesen Job mit großer Wahrscheinlichkeit nicht.
Und was sind wir?
Jetzt kennen Sie die Basics des indischen Kastensystems und fragen sich wahrscheinlich, wie die Inder uns positionieren? Welcher Kaste gehören wir sozusagen an? Ganz einfach: Keiner!
Man wird in Kasten hineingeboren. Das Kastensystem mit seiner Bewertung von besser und schlechter, höher und niedriger ist etwas spezifisch Indisches. Bei uns gab es jedoch in der Vergangenheit auch eine berufsständische Ordnung. Dieser Vergleich hinkt allerdings, weil es keine religiöse und ethische Konnotation gab.
Übrigens: „Kaste“ ist kein Wort aus Indien. Als die Portugiesen nach Indien kamen, stellten sie fest, dass es eine besondere hierarchische Gliederung innerhalb der Gesellschaft gibt. Dafür verwendeten sie die Bezeichnung „Kaste“. Während der britischen Kolonialzeit wurde dann der Begriff „caste“ geprägt, um dieses System zu beschreiben.
Was bedeutet dies für Ihren beruflichen Alltag in Indien?
Jetzt haben Sie gelernt, dass das Kastensystem im beruflichen Kontext keine Rolle spielen sollte. Das heißt, Sie werden Ihre indischen Teams nach Qualifikation und Leistung zusammenstellen und nicht etwa nach Kastenzugehörigkeit. Sie müssen auch keine Quotenregelung erfüllen, weil Sie ja keine staatliche Einrichtung sind.
Zum Abschluss zwei Tipps für Ihre Praxis:
Orientieren Sie sich bei Ihrem Recruiting und Ihrer Personalentwicklung strikt nach Qualifikation und Leistung. Lassen Sie sich nicht durch die Kastenzugehörigkeit Ihrer Mitarbeitenden leiten.
Auch wenn Inder die Kastenzugehörigkeit am Familiennamen erkennen, fragen Sie bitte Ihre Verhandlungspartner/innen oder Kollegen/innen nicht, welcher Kaste sie angehören. Betrachten Sie dieses System als indische Gegebenheit und fangen Sie nicht an, danach zu klassifizieren.
Meist liegt es nicht am Kastensystem, wenn „Sand im Getriebe“ ist und Ihre Teams nicht gut performen. Indien ist hoch diversifiziert und kann gut mit der Vielfalt – auch den Kasten – umgehen. Fast immer sind es andere Gründe, warum es nicht so läuft, wie Sie sich das vorstellen.
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Prof. Dr. Simone Rappel
Simone Rappel ist selbst sehr vielseitig: von Hause aus Theologin, ist sie lange im Bereich Globales Lernen tätig gewesen, hat eine a.o. Professur inne und berät ihre Kunden zu allen Themen, die mit der Geschäftskultur in Indien zu tun haben. Ihr besonderes Interesse gilt ethischen Fragen in der interkulturellen Zusammenarbeit und ihre Einsichten bringt sie gern ganz konkret und praktisch auf den Punkt.
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